Kommentar von Christian Mey
Tirols Tourismus steckt in der Krise. Da können auch die hervorragenden Nächtigungszahlen dieses Sommers nicht darüber hinwegtäuschen. Das System ist überhitzt und läuft im roten Bereich. Längst sind die Grenzen des gesunden Wachstums in vielen Tiroler Hotspots erreicht, wenn nicht bereits überschritten. 12,4 Millionen Gäste besuchten im Rekordjahr 2019 Tirol. Rund doppelt sie viele wie noch 30 Jahre zuvor. Selbst im vergangenen Jahr waren es noch 8.7 Millionen. Trotz Pandemie.
Die Zahlen sind gigantisch
Tirol vereint mit knapp 50 Millionen mehr als ein Drittel des gesamtösterreichischen Nächtigungsvolumens auf sich und hat damit den weitaus höchsten Nächtigungsanteil aller österreichischen Bundesländer. Allein im Bezirk Schwaz werden mehr Nächtigungen verzeichnet als in manchen österreichischen Bundesländern. Tirol ist die alpine Tourismusregion mit dem höchsten Anteil am internationalen Reisemarkt. Der Tiroler Tourismus ist damit noch stärker exportorientiert als die Tiroler Industrie. Nahezu jeder dritte Euro wird in Tirol direkt oder indirekt in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft verdient. Den Tiroler Wohlstand haben wir zu einem großen Teil dem Tourismus zu verdanken.
Die Decke ist noch lange nicht erreicht
Geht es nach den Touristikern, ist die Decke daher noch nicht erreicht. Wenngleich sich Fachleute einig sind, dass bei den Wintersaisonen kein Zuwachs mehr möglich sein wird, haben der Sommer und die bisherigen Nebensaisonen Frühling und Herbst mit neuen Gästeschichten noch Potenzial für Steigerungen.
Tourismus stößt an die Grenzen der Akzeptanz
Doch die Tiroler:innen zeigen sich auch zunehmend kritisch gegenüber der mächtigen Tourismusindustrie. Als belastend wird das stark gestiegene Verkehrsaufkommen wahrgenommen. Gleichzeitig fühlt sich eine zunehmende Zahl von Tiroler:innen – insbesondere während der Hochsaison im Februar und August – schon fast als Gast im eigenen Land. Kein Wunder, dürften sich zu Spitzenzeiten gut und gerne an die 300.000 Tourist:innen in Tirol aufhalten. Die Tiroler „Bevölkerung“ wächst damit in der Hochsaison kurzfristig um rund 40 %. Kritisiert wird aber nicht nur die schiere Masse an Tourist:innen. Auch ihr Verhalten stößt Einheimischen immer wieder auf, beispielsweise wenn Bergtouren ohne Vorbereitung zu Rettungseinsätzen führen, sich Wandernde falsch gegenüber Almtieren verhalten, die Natur oder die Tiroler Kultur nicht respektieren.
Mitte des Jahres trat sogar die Landespolitik auf die Tourismusbremse. Die Gesamtzahl von 330.000 Betten soll die absolute Obergrenze bilden. Erfolg soll künftig mehr an Gästetreue und der Mitarbeiter:innenzufriedenheit gemessen werden.
Ohne Mitarbeiter:innen gehen im Tourismus die Lichter aus
Denn bei zweiterem stößt der Tiroler Tourismus schon jetzt auf ein massives Problem: den chronischen Mangel an Mitarbeiter:innen, der zu einem guten Teil auch hausgemacht ist. Seit Jahrzehnten werden die Arbeitsbedingungen und auch das Niveau der Gehälter kritisiert. Mindestens ebenso lange sinken die Zahlen einheimischer Mitarbeiter:innen im Tourismus, obwohl Österreich weltweit die besten Tourismusschulen hat. Doch junge Kräfte geben immer öfter schon nach dem ersten Praktikum auf und sehen ihre Zukunft in anderen Branchen. Ein großer Teil der Tourismuskräfte kommt daher seit Jahren aus dem Osten Deutschlands, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Durch die Pandemie bleiben jetzt aber auch viele dieser unverzichtbaren Kräfte aus. Rund 25 % des Personals fehlten dem Tourismus in diesem Sommer. Und der demografische Wandel lässt befürchten, dass sich die Situation verschärfen wird.
Es beginnt ein beinharter Kampf um die Talente
Manche Dienstleistungen konnten in diesem Tourismussommer teils nur eingeschränkt oder gar nicht erbracht werden. Jetzt startet ein beinharter Kampf um die Talente. Innovative Tourismusverbände beginnen daher Betriebe beim Recruiting und moderner Mitarbeiter:innenführung zu unterstützen. Vorbildlich dabei, der Tourismusverband Wilder Kaiser. Dort gründete man schon vor Jahren mit der Kaiserschaft eine Art „Club der besten touristischen Arbeitgeber:innen“ in der Region. Wegweisend. Der Wermutstropfen: Nur rund 15 von rund 165 gewerblichen Beherbergungsbetrieben am Wilden Kaiser haben die Zeichen der Zeit erkannt und nutzen diese hervorragende Chance. Nur 15 bekunden damit klar und deutlich, dass sie als touristischer Arbeitgeber zukunftsweisende Standards setzen wollen. Das sind rund neun Prozent. Mehr nicht.
Die Selektion hat bereits begonnen
Aber diese neun Prozent werden im Kampf um die Talente von morgen erfolgreicher sein, weniger Mitarbeiterfluktuation haben, leichter motivierte Arbeitskräfte finden, mehr Wertschöpfung generieren und bessere Gewinne erzielen. Entwickeln sich touristische Betriebe nicht konsequent und nachhaltig zu attraktiveren Arbeitgeber:innen, werden sie immer größere Probleme bekommen, überhaupt Arbeitskräfte zu finden. Am Ende des Tages wird das für diese Betriebe wohl das bittere Ende bedeuten. Überleben werden künftig nicht die mit den meisten Gästen, sondern die mit den meisten und besten Mitarbeiter:innen.